Tobias Jaag

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Eine verkehrte Verknüpfung

Verlangen gesetzliche Neuerungen eine Verfassungsabstimmung, so sollte diese durchgeführt werden, bevor die Referendumsfrist für die Gesetzesänderungen ausgelöst wird.

29.08.2025 Prof. Dr. Tobias Jaag, LL.M.

Der Zürcher Kantonsrat hat im Juni 2025 mit Änderungen der Kantonsverfassung sowie des Kantonsratsgesetzes und des Gemeindegesetzes beschlossen, für die Mitglieder des Kantonsrates eine Stellvertretungsregelung einzuführen. Die Gemeinden sollen eine solche Regelung für ihre Parlamente ebenfalls beschliessen können. Nach den Sommerferien muss der Kantonsrat das Geschäft im Rahmen der zweiten Lesung noch formell verabschieden. Anschliessend unterliegt die Änderung der Kantonsverfassung dem obligatorischen, die Gesetzesänderungen dem fakultativen Referendum. Die Neuerung war im Kantonsrat umstritten. Eintreten auf die Vorlage wurde nur mit 96 zu 74 Stimmen beschlossen, und am Ende der Debatte wurden die Verfassungs- und Gesetzesänderungen mit 120 zu 49 Stimmen angenommen.


Neben der Grundsatzfrage, ob bei einer längeren Verhinderung eines Parlamentsmitglieds eine Stellvertretung möglich sein soll, war auch die gesetzliche Ausgestaltung der Regelung umstritten. Insbesondere bei der Frage, in welchen Fällen eine Stellvertretung zulässig sein soll, waren sich die Politikerinnen und Politiker nicht einig. Gemäss der verabschiedeten Regelung ist dies nur möglich bei Mutterschaft, Krankheit oder Unfall. Minderheitsanträge, auch bei Vaterschaft, Aus- und Weiterbildung sowie Militär- und Zivildienst eine Stellvertretung zuzulassen, wurden abgelehnt.


Da die Änderungen des Kantonsratsgesetzes und des Gemeindegesetzes einer Grundlage in der Kantonsverfassung bedürfen, können sie nur in Kraft treten, falls die neue Verfassungsbestimmung in der obligatorischen Volksabstimmung angenommen wird. In Anbetracht der erheblichen Opposition gegen die Neuerung ist es ungewiss, ob die Stimmberechtigten der Verfassungsänderung zustimmen werden. Nach der zürcherischen Praxis werden Gesetzesänderungen, die von einer gleichzeitig verabschiedeten Verfassungsänderung abhängig sind, sogleich nach der Verabschiedung durch den Kantonsrat im Amtsblatt publiziert. Damit wird die Frist von sechzig Tagen für das fakultative Referendum ausgelöst, bevor die obligatorische Volksabstimmung über die Verfassungsänderung stattgefunden hat. Das bedeutet, dass politische Gruppierungen, die eine andere als die beschlossene gesetzliche Regelung wünschen, Unterschriften gegen die Gesetzesänderungen sammeln müssen, bevor klar ist, ob es für die umstrittenen Regelungen eine Verfassungsgrundlage gibt.


Das halte ich – unabhängig vom Inhalt der Rechtsänderungen – für rechtlich und politisch fragwürdig. Korrekt wäre es, zuerst die Volksabstimmung über die Verfassungsänderung durchzuführen. Nur wenn diese angenommen wird, darf die Referendumsfrist für die Gesetzesänderungen ausgelöst werden. Wird die Referendumsfrist vor der Verfassungsabstimmung ausgelöst, müssen Unterschriften für das Gesetzesreferendum gesammelt werden, obwohl die Gesetzesänderungen wegen der Ablehnung der Verfassungsänderung möglicherweise gar nicht in Kraft treten können. Damit wird für die Stimmbürgerinnen und -bürger wie auch für die Verwaltung von Kanton und Gemeinden allenfalls nutzloser Aufwand verursacht. Zumindest in Fällen wie dem vorliegenden, in welchen die gesetzliche Regelung politisch umstritten ist, muss mit der Auslösung der Referendumsfrist für die Gesetzesänderungen zugewartet werden, bis das Ergebnis der Verfassungsabstimmung feststeht.

NZZ vom 29.08.2025

Rechtsanwalt Tobias Jaag
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Prof. Dr. Tobias Jaag, LL.M.

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